Die Gemeinde von Thessalonich Der Ölbaum im Gespräch mit Dr. Regina Börschel

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Interview: Lutz Debus
Bilder und Video: Christoph Schönbach

Der Ölbaum: Frau Dr. Börschel, Sie haben sich in Ihrer Dissertation mit der Konstruktion christlicher Identität befasst. Können Sie die Ergebnisse Ihrer Forschung kurz zusammenfassen?

Dr. Regina Börschel: Eine ganze Dissertation in wenigen Sätzen zusammenzufassen, ist natürlich eine große Herausforderung. Ich kann aber beschreiben, was mich an der Themenstellung interessiert hat. In meiner Arbeit habe ich mich mit der Gemeindegründung von Thessaloniki beschäftigt. Diese Gemeinde ist von Paulus auf seiner zweiten Missionsreise gegründet worden. Ich habe mir speziell diese Gemeinde ausgesucht, weil wir, wenn wir uns die neutestamentlichen Schriften ansehen, in keinem Falle näher an die Anfänge einer Gemeinde herankommen und auch an die Frage, wie die Anfänge des Gemeindeaufbaus ausgesehen haben. Bei der Gemeinde in Korinth und auch in den Gemeinden von Galatien liegen zwischen der jeweiligen Gemeindegründung und dem Korinther Brief beziehungsweise dem Galaterbrief fünf bis sechs Jahre. Man kann sich vorstellen, dass sich in solch einer Zeitspanne viel in einer Gemeinde entwickelt hat. Rollen und bestimmte Funktionen haben sich gefestigt. Das war bei den Thessalonikern anders. Da ist der erste Brief ein halbes Jahr nach der Gemeindegründung geschrieben worden. Man ist also wesentlich dichter an den Anfängen dran.

Das Interview mit Dr. Regina Börschel als Video

Der Ölbaum: Gibt es Parallelen zwischen dem hellenistisch-römischen Kontext, in dem sich die Identität der frühen Kirche ausbildete, und den Herausforderungen neuzeitlicher Umwelten insbesondere mit Blick auf die Existenz christlicher Gemeinden?

Dr. Regina Börschel: Man kann beide Situationen tatsächlich ganz gut miteinander vergleichen. Auch die Gesellschaft in Thessaloniki war eine multikulturelle, multireligiöse und internationale Gesellschaft. Thessaloniki war in der Zeit, als sich dort die Gemeinde gründete, eine der größten Städte des Römischen Reiches, eine Provinzhauptstadt, eine Handelsmetropole. Es sind Menschen aus den unterschiedlichsten kulturellen Kontexten zusammengekommen. Sie sprachen viele verschiedene Sprachen, praktizierten unterschiedlichste Kulte, verehrten unterschiedlichste Gottheiten. In dieser Stadt entwickelte sich die christliche Gemeinde zunächst als eine Minderheitengemeinde, die einer nichtchristlichen Gesellschaft gegenübersteht. Auch heute sind Christen nicht mehr die Mehrheit in vielen Städten der westlichen Welt. Der Vergleich zwischen beiden Situationen ist also durchaus spannend.

Lutz Debus im Gespräch mit Dr. Regina Börschel
Lutz Debus im Gespräch mit Dr. Regina Börschel

Der Ölbaum: Mit Blick auf die Gründung der arabischsprachigen christlichen Gemeinde, die sich gerade in Wuppertal gründet möchte ich die folgenden Fragen stellen. Welche Herausforderungen ergaben sich damals aus der Begegnung unterschiedlicher kultureller Identitäten? Und welche Fehler können vermieden werden?

Dr. Regina Börschel: Paulus war es wichtig, die Christen in ihrem Selbstbewusstsein zu stärken. Für ihn bedeutete christliches Selbstbewusstsein aber nicht Abgrenzung. Er verdeutlichte den Gemeindemitgliedern, dass mit dem christlichen Glauben auch eine bestimme Haltung und ein bestimmtes Ethos verbunden war, dass zum christlichen Leben zum Beispiel keine sexuellen Ausschweifungen passen, dass man die Mitschwester und den Mitbruder nicht übervorteilen soll. Viele der Regeln waren auf den innergemeindlichen Zusammenhalt ausgerichtet. Sie sollten die Gemeindemitglieder stützen, stärken, Solidarität erfahrbar machen. Dabei ging es ihm nicht um Abschottung der Gemeinde. Er sagte, lebt ein Leben, das für andere auch ansprechend sein kann.

Der Ölbaum: Sie sollten nicht missionieren?

Dr. Regina Börschel: Doch, natürlich. Paulus selbst war ja ein Missionar, ist von Stadt zu Stadt gezogen, um das Evangelium zu verkünden. Er ist bewusst in die Metropolen gegangen, damit sich von dort das Evangelium weiter ausbreiten kann. Paulus war es wichtig, den einzelnen Gemeinden zu vermitteln, dass sie vielleicht in ihrer Stadt die Minderheit sind, dass es aber Schwestern und Brüder in ihrer Provinz gibt, auch in Jerusalem, auch in anderen Städten. Den Gemeinden wurde vermittelt, dass es ein weites Netz gibt, mit dem sie mit allen anderen Gläubigen verbunden sind. In einem späteren Brief forderte er die Gemeinde in Thessaloniki auf, für die Armen in Jerusalem zu sammeln. Von dort, so sagte er, ist der Glauben zu Euch gekommen, jetzt gebt denen dafür etwas zurück. So zeigt er, dass jede Gemeinde ein kleiner Teil eines großen Ganzen ist.

Der Ölbaum: Das klingt ja nach antikem Internet.

Dr. Regina Börschel: Dieser Aspekt der Vernetzung hat mich in meiner Forschung tatsächlich sehr fasziniert. Paulus musste Thessaloniki überstürzt verlassen, weil ihm Verfolgung drohte. Er konnte also dort nicht seine Arbeit vollenden, kein komplettes Katechismuswissen vermitteln. Aber er schickte nach seiner Abreise einen Mitstreiter, Timotheus, zurück zur Gemeinde. Der stärkte die auch von Verfolgung bedrohte Gemeinde, reiste dann wieder zu Paulus, berichtet ihm und der schreibt dann wieder einen Brief nach Thessaloniki. Durch seine Mitarbeiter und Briefe kommunizierte Paulus mit den Gemeinden. Das Internet hatte er zwar noch nicht zur Verfügung, aber er hat seine Wege gefunden.

Der Ölbaum: Schon damals gab es also so etwas wie Globalisierung?

Dr. Regina Börschel: Absolut. Paulus war ein großer Globalisierer. Er war von dem Ehrgeiz erfasst, das Evangelium bis an den Rand der ihm bekannten Welt zu bringen. Er war geprägt von dem Glauben an die Endzeit. Mit der Auferstehung Christi war für ihn die Endzeit schon zu spüren. Deshalb versuchte er so rastlos den Glauben zu verbreiten.

Die Thessalonicherbriefe des Paulus geben uns den frühsten Einblick in die Entstehung christlicher Gemeinden
Die Thessalonicherbriefe des Paulus geben uns den frühsten Einblick in die Entstehung christlicher Gemeinden

Der Ölbaum: Welche Aspekte sind für die Entstehung einer christlich-gemeindlichen Identität wichtig?

Dr. Regina Börschel: Paulus war es wichtig, dass zu der christlichen Identität der Glaube gehört. Er hat Glaubensinhalte vermittelt. Wichtig war ihm die Botschaft von dem einen lebendigen Gott. Damit hat er sich schon von den Kulten mit ihren vielen Göttern und Götzen unterschieden, die in der römisch-hellenistischen Welt verbreitet waren. Er hat deutlich gemacht, dass die Hinwendung zu dem einen, lebendigen Gott die Verehrung der anderen Götter und Götzen ausschloss. Die Götzen waren für ihn tot. Das ist in der römisch-hellenistischen Welt erst einmal eine ungewöhnliche Vorstellung. Dort war die Ausübung des Kultes das Maßgebliche. Allerdings durfte man verschiedene Kulte gleichzeitig praktizieren, solange man diese korrekt ausführte. Paulus machte aber auch deutlich, dass zu der christlichen Identität ein Ethos gehört. Überschwängliche sexuelle Begierden, so Paulus, seien mit dem Christentum nicht vereinbar. Der Begriff der Unzucht wurde von jüdischer und christlicher Seite geprägt. Auch war es damals schon im Christentum wichtig, die Mitschwester und den Mitbruder nicht zu übervorteilen. Habgier lässt sich mit einer christlichen Identität nicht vereinbaren.

Der Ölbaum: Das steht ja so auch in den zehn Geboten.

Dr. Regina Börschel: Die gehören natürlich dazu. Paulus machte aber auch deutlich, dass zum Christentum auch eine Grundhaltung dazugehört. Er machte deutlich, dass die Thessaloniker die sind, die Hoffnung haben. Auch die Grundhaltung der Freude gehört für Paulus zur christlichen Identität. Christen sind nicht die, die immer Trübsal blasen. Sie sind nicht die, die immer bierernst daherkommen. Sie sind die, die Hoffnung haben. Paulus war bestimmt nicht sauertöpfisch.

Der Ölbaum: Wie kann der Spagat zwischen Abgrenzung und Wahrung kultureller Identitäten auf der einen Seite und Integration und Assimilation gelingen – gerade mit Blick auf die Besonderheit, dass die arabischsprachige christliche Gemeinde in Wuppertal eine eigene rituelle Identität mitbringt?

Dr. Regina Börschel: Identität hat ja nichts mit Abgrenzung zu tun, sondern mit Unterscheidung. Identität beginnt damit, dass ich sage: „Ich bin nicht Sie.“ Das ist eine erste fundamentale Unterscheidung. Sie haben eine andere Biographie als ich sie habe. Das unterscheidet uns in unseren Identitäten. Unterscheidung muss nicht immer Abgrenzung bedeuten. Identität bestimmt sich nicht durch Negation. „Ich bin nicht…“ führt noch nicht zu einer Identität. Im positiven Sinne bedeutet, eine Identität zu haben, ein Selbstbewusstsein zu haben. Christen sind die, die von dem einen und lebendigen Gott berufen sind. Wichtig ist auch der Blick auf den Zusammenhalt. Vor Ort seid Ihr vielleicht nur eine kleine Minderheit, insgesamt seid Ihr aber Teil einer großen Gemeinschaft. Paulus hat immer den Blick über die eigenen Grenzen hinaus in die Gesellschaft gewagt. Er hat nie seinen Gemeinden empfohlen, dass sie sich absondern sollen, zu Außenseitern werden sollen. „Führt ein ruhiges Leben.“ Vielleicht ist dies ja dann auch ein Werben für diesen Weg. Vielleicht spricht das ja andere an, dass die Christen durch eine besondere Hoffnung und Freude gekennzeichnet sind. Paulus bildete nicht durch Abgrenzung die Identität seiner Gemeinden.

Der Ölbaum: In Wuppertal gibt es eine katholische Gemeinde mit einer Tradition von vielen hundert Jahren und nun ganz neu einer orientalischen Christengemeinde, die sich gerade konstituiert. Hat da Paulus Tipps, wie diese beiden Gruppen zueinanderkommen und Streit vermieden werden kann?

Dr. Regina Börschel: Streit kommt immer dann auf, wenn man sich seiner eigenen Identität unsicher ist. Wenn man sich seiner eigenen Schätze, seiner eigenen Sprache und seines eigenen kulturellen Reichtums bewusst ist, benötigt man keinen Streit. Es ist wichtig, sich nicht von anderen abzuschotten, sondern das Verbindende und Gemeinsame zu suchen und gemeinsame Wege zu gehen. Beide Gruppen sind ja von der gleichen Hoffnung und Freude beseelt. Das ist doch ein großer gemeinsamer Schatz, den man teilen kann.

Der Ölbaum: Gab es damals vor knapp 2000 Jahren nicht auch schon Streit zwischen den verschiedenen Gemeinden?

Dr. Regina Börschel: Es gab weniger Streit zwischen den Gemeinden als zwischen verschiedenen Autoritäten. Paulus ist ja als Missionar von Gemeinde zu Gemeinde gereist. Es gab aber auch andere christliche Missionare. Da kann es zu Konkurrenzsituationen gekommen sein. Es lassen sich auch Unterschiede in den Konzepten beobachten, wie man das Verhältnis zur nichtchristlichen Umgebung bestimmt. Es gab Autoritäten, die mehr auf einen offenen Umgang Wert legten und andere setzten mehr auf Abgrenzung. In dem Buch der Apokalypse sieht man sehr stark, wie sehr diesbezüglich in den christlichen Gemeinden gerungen wurde. Geht man eher den Weg der Anpassung, der Assimilation, verbunden mit der Gefahr, die eigene Identität zu verlieren, oder schottet man sich ab, um das Eigene zu bewahren. Da gab es ganz praktische Probleme. Was machen wir, wenn wir bei einem Nichtchristen zum Essen eingeladen sind? Alles Fleisch, was auf antiken Märkten gehandelt wurde, stand mit heidnischen Kulten in Verbindung. Erkenne ich, wenn ich dieses Fleisch esse, die Existenz der Götzen an? Paulus meinte, man solle auf diejenigen Rücksicht nehmen, die von diesem Fleisch nicht essen wollen.

Der Ölbaum: Welchen Beitrag können außertheologische Disziplinen wie etwa die Soziologie hier leisten?

Dr. Regina Börschel: Nichttheologische Disziplinen, insbesondere die Humanwissenschaften, können dazu beitragen zu verstehen, wie wir Menschen ticken. Sie können nach den existenziellen Fragen suchen. Und sie können erkennen, ob das, was für uns Christen plausibel ist, auch für Nichtchristen plausibel ist. Welche anderen Fragen haben Nichtchristen? Humanwissenschaften können uns auch Auskunft über unsere Sprache geben. Erreichen Christen mit ihren Worten noch die Menschen? Sind wir überzeugend? Oder benutzen wir ein Vokabular, mit denen hier viele nicht aufgewachsen sind und das deshalb gar nicht verständlich ist?

Der Ölbaum: Was ist aus Ihrer Sicht der entscheidende Aspekt des Entstehens christlicher Identität in den paulinischen Gemeinden? Was können wir heute daraus lernen?

Dr. Regina Börschel: Wir können lernen, dass Paulus nicht auf Abgrenzung setzt. Er versuchte, seinen Gemeinden Selbstbewusstsein zu vermitteln. In den Gemeinden von Paulus steht das Stärken und Bekräftigen aber auch das Korrigieren und Ermahnen im Mittelpunkt, eben nicht das Abgrenzende. Für Paulus war es wichtig, wie die Christen miteinander umgehen.

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Der Ölbaum: Kann man Identität machen?

Dr. Regina Börschel: Identität entsteht ja durch die Beantwortung der Frage, was uns auszeichnet. Hier spielen dann auch die anderen Mitglieder der Gemeinde eine wichtige Rolle. Man sieht, man ist nicht alleine, sondern man ist Teil einer Gemeinschaft. Man sieht sich zwar in einer Minderheit, erkennt aber neben sich Menschen, die sich mit ähnlichen Fragen beschäftigen, die ähnliche Hoffnungen haben. Die Gemeinde ist ein Ort, an dem man seine eigenen Fragen formulieren kann und sich gemeinsam auf die Suche nach Antworten machen kann.

Der Ölbaum: In Wuppertal finden sich nun die orientalischen Christen ein, deren Glauben für die Einheimischen wirkt, als sei er in Bernstein gegossen, als sei er über fast 2000 Jahre konserviert. Wie können heutzutage mitteleuropäische Christen mit Christen kommunizieren, die aus einer ganz anderen Epoche und einer ganz anderen Region stammen? Gibt es ein gemeinsames Thema?

Dr. Regina Börschel: Die Grundlage ist die Gleiche, die Heiligen Schriften, die gemeinsame Feier der Sakramente. Der gemeinsame Glaube ist das Verbindende, auch wenn die Art und Weise, wie darüber gesprochen wird, unterschiedlich ist. Der christliche Glaube ist doch sowohl für die katholischen Gemeinden wie auch für die arabischen Christen, die nun in Wuppertal leben, etwas Grundlegendes. Das sind doch sehr fundamentale Gemeinsamkeiten, auf die man gut aufbauen kann. Der Glaube hat doch für beide Gruppen eine Relevanz für das eigene Leben. Für beide Gruppen ist die Feier der Liturgie wichtig, für beide Gruppen ist das Lesen in der Heiligen Schrift wichtig. Auch wenn die kulturellen Ausdrucksformen unterschiedlich sind, ist doch die gemeinsame Plattform da.

Der Ölbaum: Wenn wir jetzt eine Zeitmaschine hätten und ein paar Gemeindemitglieder aus Thessaloniki nach Wuppertal transferieren könnten, könnten wir von denen etwas lernen?

Dr. Regina Börschel: Man könnte von den antiken Christen lernen, wie man sich mit einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft auseinandersetzen kann. Wir sind ja im Moment in einer Phase des Umbruchs. Die Kirche ist im Grunde nicht mehr Volkskirche. Die Zahl der Christen nimmt in den Städten ab. In Städten wie Köln oder Düsseldorf machen die Christen vielleicht noch 50 Prozent aus. Das, was eine Volkskirche früher ausgemacht hat, dass man in einer christlichen Familie aufwächst, die am Sonntag gemeinsam in den Gottesdienst gegangen ist, die vor dem Essen gemeinsam gebetet hat, ist längst nicht mehr selbstverständlich. Umso erstaunlicher ist es, dass es immer mehr Erwachsene gibt, die sich dazu entscheiden, Christen zu werden. Das war in den paulinischen Gemeinden auch der Fall. Diese Christen sind ja nicht in eine Gemeinde hineingewachsen. Sie mussten ja vor Ort quasi von Null anfangen. Damals wie heute zählt die persönliche Entscheidung für den Glauben. Damals wie heute nehmen Menschen, die sich neu zu dem Christentum bekennen, die damit verbundenen persönlichen Konsequenzen in Kauf. Von dieser Haltung der Urchristen können wir lernen.

Dr. Regina Börschel arbeitet bei der Deutschen Bischofskonferenz im Referat Verkündigung und Glaubensinformation.
Dr. Regina Börschel arbeitet bei der Deutschen Bischofskonferenz im Referat Verkündigung und Glaubensinformation.

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